Vom Schweigen der Zellen zum Bild. Anmerkungen über das Sehen. Günther Zeck im Gespräch mit Dorcas Müller

Dorcas Müller: Erst mit der Existenz des Neurochips und des Elektrodenarrays - der Schnittstelle von Nervenzelle und Chip ist eine neue Dimension der neurophysiologischen Forschung eröffnet worden. Ausgehend davon möchte ich dich bitten dein aktuelles Experiment zu beschreiben.

Günther Zeck: Ich experimentiere mit der Netzhaut des Kaninchens, mit der Retina, und versuche dort mit Hilfe von kommerziellen Elektrodenarrays elektrische Signale von mehreren Ganglienzellen zu messen. Die Elektrodenarrays bestehen im Wesentlichen aus Metallelektroden, die auf ein Glasplättchen aufprozessiert sind. Ich versuche mit diesen Elektrodenarrays, und anhand der elektrischen Signale die Ganglienzellen zu charakterisieren. Die Ganglienzellen sind jene Zellen in der Netzhaut, die das Signal, welches von den lichtsensitiven Stäbchen und Zäpfchen empfangen wird, über den optischen Nerv zum Gehirn weiterleiten. Bevor dieses Weiterleiten geschieht, haben die Ganglienzellen schon einiges an Signalverarbeitung geleistet, da sie nur auf bestimmte Charakteristika der Bilder reagieren. Das Lichtsignal löst in den Ganglienzellen elektrische Signale aus, die von Elektroden gemessen werden. Nun gibt es verschiedene Arten von Ganglienzellen. Ich versuche herauszufinden für welche Eigenschaft in unserem visuellen Feld jeweils ein Ganglienzelltyp am besten antwortet. Man weiæ schon daæ Zellen existieren, die bei der Erhöhung der Lichtintensität ihre Feuerrate, das heißt ihre elektrische Signalfrequenz erhöhen. Von anderen Zellen weiß man, daß sie bei einer geringeren Lichtintensität die Signalfrequenz erniedrigen, man weiß, von Zellen, die sehr gut antworten, wenn sich ein Lichtbalken ins Gesichtsfeld bewegt und nur in eine bestimmte Richtung, die aber nicht antworten, wenn der Lichtbalken aus der entgegengesetzten Richtung kommt. Ich habe jetzt etwa drei Beispiele angeführt, es gibt aber 10, wahrscheinlich 10 bis 15, eventuell sogar bis 20 unterschiedliche Ganglienzelltypen. Und man möchte nun verstehen: Wie werden die Bilder, die wir sehen, auf der Netzhaut von 10 verschiedenen Ganglienzelltypen verarbeitet und dann über den optischen Nerv zum Gehirn geführt?

Praktisch gesehen: Wie ist der Aufbau des Experiments, was sind die einzelnen Zutaten, wie ist der Ablauf?

Zunächst wird die Retina des Kaninchens präpariert. Das Kaninchen wird betäubt und getötet und die Retina, wenn man sie schnell herauspräpariert, lebt noch einige Zeit. Ein etwa ein auf ein Zentimeter großes Stück der Retina wird abgeschnitten, und auf das Elektrodenarray gelegt. Die Retina liegt flach auf, nicht ganz so gekrümmt wie es im Auge der Fall ist. Die Ganglienzellschicht liegt direkt auf den Elektroden. Die Zellen werden aber nicht angestochen. Man mißt die Signale extrazellulär, damit man die Zellen nicht verletzt. Die Retina stirbt deshalb, weil sie nicht mehr in einem lebendigen Organismus ist, sondern nur noch von künstlichem Zellmedium eine zeitlang am Leben erhalten wird. Das ganze Experiment mache ich unter Rotlicht, weil die Kaninchen keine roten Zäpfchen haben. Die Bilder generiere ich über einen Computermonitor. Da der Computermonitor eine geringe Lichtintensität hat, muß ich das Auge dunkel adaptieren. Deshalb werden die Experimente im Dunkeln gemacht. Über einen Computer kann man verschiedene Bilder erzeugen: Quadrate oder sich bewegende Balken, oder Schachbrettmuster in denen jedes einzelne Feld unabhängig von den anderen moduliert wird. Diese Bilder werden über ein Objektiv auf den kleinen Ausschnitt der Retina projiziert.

Was für Bilder zeigst du dem Hasen; Könntest du einzelne Bilder beschreiben Und warum denkst du, daß diese speziellen Bilder jeweils für den Hasen interessant sind?

Nun, ich komme zurück zu den Ganglienzellen weil ich mich hauptsächlich damit beschäftige. Man hat herausgefunden, daß jede einzelne Ganglienzelle besonders gut auf einen hellen Kreis reagiert, der eine bestimmte Größe hat, eine bestimmte Ausdehnung. Man nennt diese Ausdehnung dann rezeptives Feld der Ganglienzelle. Das ist der Bereich im visuellen Feld, auf den diese Ganglienzelle am besten anspricht. Deshalb zeige ich als einen Standard einen hellen Kreis vor einem grauen Hintergrund und moduliere die Größe des Kreises. Ich nenne es Protokoll oder man kann es auch ein Standardbild nennen. Ich beginne mit einem kleinen Kreis und zeige den für eine bestimmte Zeit. Dann wächst der Durchmesser des Kreises und aus den gemessenen elektrischen Lichtsignalen der Ganglienzellen kann ich die Größe des rezeptiven Feldes bestimmen. Ich weiß dann für einen wie großen Bereich diese Ganglienzelle zuständig ist. Das kann ich herausrechnen. Dieses einfache Bild mit den Kreisen ist nicht neu, man hat das schon vor vielen Jahren herausgefunden und angewendet. Auch mit Einzelelektrodenmessung. Bei der Elektrodenmessung nimmt man zum Beispiel das Schachbrettmuster. Und zwar ein Schachbrettmuster, welches nicht nur 64 Quadrate hat, sondern man kann sogenannte Schachbrettmuster auch mit 256 Quadraten programmieren. Man kann die Lichtintensitäten dieser Quadrate unabhängig voneinander modulieren und dann über einen mathematischen Algorithmus aus den gemessenen Signalen das rezeptive Feld bestimmen. Im Optimalfall für 30 Ganglienzellen. Man weiß dann von einem kleinen Bereich der Retina welche Ganglienzelle wofür zuständig ist.

Was mir jetzt auffällt, wenn du an das Sehen des Hasen denkst und an die Bilder, die du ihm zeigst: du überlegst immer ausgehend von den Zellen - was die Zellen des Hasen interessant finden. Du versuchst nun für jeden Zelltypus ein Bild zu finden, welches für die Spezifikation dieser Zellen interessant ist. Doch du sagst, du kennst die Aufschlüsselung dieser Zelltypen noch gar nicht. Ist in dem Punkt der Hase nur eine Anhäufung von Zellen? Denkt man da nicht zuerst was für den Hasen als Ganzes interessant sein könnte, welche Arten von Bewegung? Oder welche Bilder?

Das ist richtig. Ich habe vorhin mein Unwissen versucht zu vertuschen. Wenn ich den Hasen natürliche Szenen zeige und die Signale messe kann ich nicht viel aus den Signalen herauslesen. Deshalb habe ich diese sehr vereinfachten Bilder so ausführlich beschrieben. Das ist im wesentlichen Schulbuchwissen: man ist darauf gekommen, weil man das verstanden hat. Man versteht wenn eine Zelle auf einen Kreis reagiert. Nun sieht der Hase im Leben nie ein Schachbrettmuster, wahrscheinlich wird er in seinem Leben nie ein Schachbrettmuster sehen, auf dem sich die Intensitäten wie auch immer verändern. Das ist mir bewußt und ist wahrscheinlich vielen Forschern bewußt, die diese Experimente machen, und trotzdem machen wir sie Tag für Tag. Ein Grund ist, wie schon erwähnt, daß wir nicht verstehen, wie die Reaktion auf natürliche Szenen ist. Jetzt gibt es Ansätze, das hat vor ein paar Jahren begonnen, der Retina auch natürliche Szenen vorzuführen. Eine schöne Studie hat einen Ausschnitt aus Casablanca gezeigt und dabei die Signale gemessen. Nicht in der Retina, sondern in einem höheren visuellen Organ hat man die Signale auf den Film Casablanca gemessen. Es gibt aber wirklich nur wenige Studien, weil es schwer ist, so etwas zu messen und dann noch zu vergleichen und streng zu analysieren. Bei den sich bewegenden Balken besteht die Hoffnung zu verstehen: Warum hat das Kaninchen diese Zellen? Wenn es sich im Gras bewegt, muß es auf den Fuchs achten, der durchs Gras kommt? Heißt das, es muß besonders gut auf Bewegungen achten? Oder muß es auf den Falken achten, der es fangen will? Dringt da in sein Gesichtsfeld plötzlich ein heller Balken, es muß ja nicht ein Balken sein - der Balken ist nur ein Symbol für ein Objekt, welches ins Gesichtsfeld reinkommt. Und der Balken muß nicht unbedingt hell sein, er kann auch dunkler im Vergleich zum Hintergrund, zur Umgebung sein. Ist es also, daß der Hase deshalb diese Zellen hat, weil er sich in Acht nehmen muß, vor dem anfliegenden Falken? Das ist eine Erklärung die man bemüht, aber die endgültige Antwort weiß man nicht. Es ist mir nicht bekannt, daß das Bild des heran fliegenden Falken jemals einer Kaninchen Retina gezeigt wurde, die Signale gemessen wurden und herausgefunden wurde, daß dabei die Kaninchen Retina optimal reagiert. Aber den Balken kann man vielleicht als Symbol für den heran fliegenden Falken interpretieren und verstehen.

Du nennst Bilder nicht Bilder sondern Protokolle. Wie kommt das?

Durch Dich habe ich erst gelernt, daß ich die Bilder, die ich zeige, Bilder nennen soll. Weil das doch sehr vereinfachte Muster oder Helligkeitsmodulationen in unserem Gesichtsfeld sind, die ich im Experiment zeige, erschien es mir fast vermessen das Bild zu nennen. Wenn man einen sich bewegenden Balken oder einen weißen Kreis auf einem schwarzen Monitor zeigt, und die Helligkeit moduliert und die örtliche Ausdehnung, dann hat man verschiedene Parameter, die man gezielt verändert. Das hat eben den Aspekt eines Protokolls: wenn man meßbare Parameter verändert. Aber das sind in der Tat Bilder - sehr einfache Bilder. Es sind keine natürlichen Bilder, darüber haben wir schon gesprochen: es sind sehr abstrakte Muster. Es ist für das Kaninchen ein Bild, welches es wahrscheinlich das erste Mal sieht, wenn es schon tot ist.

Du sprichst von abstrakten Bildern, was waren Deine Vorlagen für diese Bilder? Hast du dabei auch ästhetische Kriterien, den Fundus der bildenden Kunst berücksichtigt?

... erst durch dich bin ich darauf gekommen.

Aber du hast mir doch Bilder gezeigt, von Ernst Mach etwa. Also was waren deine Grundüberlegungen?

Ich denke, daß alle oder sehr viele Forscher, die mit der Netzhaut arbeiten und die elektrischen Signale messen, auf der Suche nach guten Bildern sind, so daß sie von den Ganglienzellen viel lernen können. Wir sind uns, wie schon erwähnt, alle bewußt, daß diese Kreise einen Aspekt, und wahrscheinlich einen sehr fundamentalen Aspekt, der Bilder darstellen, die wir täglich sehen. Aber eben nicht alles. Trotzdem noch mal zu den Kreisen, denn sie sind äußerst fundamental, um die Zellen zu charakterisieren. Ich habe gelernt, daß der Kreis aus Kandinskys Buch, daß der Kreis oder der Punkt, wie ihn Kandinsky nennt, für die Kunst ein sehr fundamentales Element - oder das fundamentale Element des Bildes ist. Das finde ich sehr spannend, daß es die Entsprechung in der Neurophysiologie dazu gibt. Man kommt dadurch zu den Bildern... Kandinsky bleibt auch nicht beim Punkt, er baut das dann weiter aus. Er baut das zu Balken aus, zu Linien und er teilt dann die Bilder und die Entsprechung ist vielleicht der Kantendetektor in der Netzhaut. Und nun geht es weiter: wie baut man von den einzelnen Elementen ein Bild auf, wie baut es unsere Netzhaut auf und die Kunst hat da ja schon viel vorgeleistet, wie baut die Kunst ein Bild auf? Nun stellt sich die Frage, ob man von dort etwas nehmen kann, ob man als Neurophysiologe von der Kunst etwas lernen kann und es dann der Netzhaut zeigen und herausfinden kann, wie eine natürliche Szene von uns wahrgenommen wird. Von dieser einfachen aber so fundamentalen Frage, davon sind wir noch weit entfernt.

Und wenn wir jetzt nah bei deinen Experimenten bleiben, gab es Bilder, die auffällig waren, durch die du besonders gute Meßergebnisse bekommen hast?

Ja, zum einen, wenn ich einen statischen weißen oder schwarzen Monitor zeige, wird die Netzhaut nur ganz kurz reagieren und dann still sein. Deshalb zeige ich zeitlich veränderte Bilder oder Bildsequenzen. Es ist richtig, daß es auch bei den sogenannten einzelnen "statischen Bildern" auf die zeitliche Komponente ankommt, um eine gute Messung zu machen. Wenn es eine stufenförmige Abfolge von hellen und dunklen Monitoren gibt, wiederhole ich diese Abfolge hundertmal und mittle später darüber um ein schönes Signal zu bekommen. Schön, in diesem Fall meine ich damit ein sauberes, mit dem die Zuordnung gut gemacht werden kann - die Zuordnung zu einem Zelltyp.

Könnte man davon ableiten, daß schon allein für die Zellen, die das Bild registrieren, ein sich veränderndes, bewegtes Bild einen sehr viel höheren Informationsgehalt hat und sozusagen die interessanteren Bilder die bewegten Bilder sind?

Ja, das würde ich sagen. Vorhin hatte ich gesagt, daß die Zellen immer ein Signal geben; da war mir nicht bewußt, daß ein schwarzer Monitor auch schon ein Bild ist - bei einem schwarzen Monitor schweigen die Zellen. Wobei schwarz eben bedeutet, daß die Lichtintensität so gering ist, daß sie nicht wahrgenommen wird. Ist das ein Bild, wenn wir es nicht wahrnehmen? Wenn es schwarz ist? Wahrscheinlich weißt du da besser bescheid. Malevich mit seiner schwarzen Fläche? Ist es so schwarz daß es... wir sehen das Schwarz dort wahrscheinlich nur deshalb, weil es den Rahmen drum herum gibt, sonst würden wir das Schwarz nicht sehen.

Ohne dieses Dunkel könnte man aber auch das Licht nicht differenzieren von den Stellen wo nichts ist.

Ja, so ist es. Ohne den ganz dunklen Monitor, der die Netzhaut nicht erregt, könnte ich nachher nichts sehen, nicht das weiße Quadrat auf meinem schwarzen Monitor sehen. Vielleicht sollte man da vorsichtig sein, ich kann auch das weiße Quadrat auf dem grauen Monitor zeigen und die Zelle reagiert schon. Es kommt in diesem Fall auf den Nichtunterschied an. Aber man kann ja weiterdenken, daß es mit dem schwarzen Monitor beginnt, bei dem die Zelle nicht reagiert und den schwarzen Monitor dann doch etwas grauer machen, so daß die Zelle beim Anschalten des grauen Monitors mal kurz reagiert. Dann schweigt die Netzhaut erneut und reagiert erst wieder, wenn ein weißes Quadrat erscheint. Sonst ist die Netzhaut still. Es kommt also in der Tat auf diese zeitliche Komponente an. Daß ich der Netzhaut erst etwas zeige, wenn sie still ist. Es gibt auch Zellen, die haben eine intrinsische Spontanaktivität, die sind nie still, die reagieren immer ein bißchen. Und selbst sie ändern ihre Signalfrequenz, wenn eine ³nderung geschieht. Es kommt also im Wesen auf die ³nderung an.

Gekürzte Fassung, das Gespräch fand statt im November 2003, Harvard Medical School, Department of Neurosurgery Research, Boston/Massachusetts